NR-Wahl nach 525 Tagen Chaos: Wird der Österreicher tatsächlich durch Erfahrung dümmer?

"Wahltag ist Zahltag" - So lautet vor allem eine Kampfansage oppositioneller Parteien vor bevorstehenden Wahlen. Die individuellen Wahlmotive der Wahlberechtigten sind dabei unterschiedlichster Natur: Wahlprogramm, Spitzenkandidat, Stammwähler, ein überzeugender Wahlkampf, bisherige Arbeit oder Visionen für die Zukunft.

 

Bei dieser Nationalratswahl besteht insofern ein Vorteil für den rational wählenden Bürger, da als Entscheidungsgrundlage die türkis-blaue Arbeit der letzten Legislaturperiode und das geplante Regierungsprogramm 2017-2022 vorliegen. Man "muss sich also nachher nicht mehr wundern, was alles möglich ist".  Die Süddeutsche Zeitung fasste die Performance der Kurz-Strache-Regierung unter der Headline "525 Tage voller Skandale" zusammen - https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-strache-skandale-tuerkis-blau-fpoe-oevp-kurz-regierung-wien-1.4469797

 

Andere Publizisten wie der linke Vordenker Robert Misik bezeichnete die rechtskonservative Regierung in seinem gleichnamigen Buch treffend als "Herrschaft der Niedertracht". Man braucht allerdings keine Kampfparolen und keine Schlagwörter, um die negativen Auswirkungen dieser Regierung auf Arbeitnehmer, Arme, Familien und Migranten zu beschreiben, es reichen die Fakten, die Gesetzesbeschlüsse und die im Regierungsprogramm verankerten Pläne.

 

In einer Nacht- und Nebelaktion - ohne Begutachtung - führten ÖVP und FPÖ den "freiwilligen" 12 Stunden-Tag und die 60 Stunden-Woche ein. Die bis dahin notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats bei einer Erhöhung der Arbeitszeit wurde beseitigt. Bei Gleitzeit fallen die Zuschläge für die 11. und 12. Stunde weg. Zahlreiche leitende Angestellte dürfen zeitlich unbeschränkt beschäftigt werden. Im florierenden Tourismusgewerbe (in dem gleichzeitig die Steuern auf 10 % gesenkt wurden) wurde die Ruhezeit von 11 auf 8 Stunden gesenkt. Familienleben, ade!

 

Die von SPÖ-Bundeskanzler Kern initiierte "Aktion 20.000" für Langzeitarbeitslose über 50 wurde abgeschafft, ebenso der Beschäftigungsbonus. Das AMS-Budget wurde von 1,9 auf 1,4 Milliarden Euro, also um 30 Prozenzt gekürzt. Arbeitslosen (die ab 2020 einem umstrittenen, unter Diskriminierungsverdacht stehenden Algorithmus unterworfen werden) drohen härtere Zumutbarkeitsbestimmungen. Noch nicht umgesetzt, aber ableitbar aus dem Regierungsprogramm ist die Streichung der Notstandshilfe für Langzeitarbeitslose, die dann sofort in die Mindestsicherung kippen. Die Folgen: Eine Verwertung des vorhandenen Vermögens und eine grundbücherliche Sicherstellung der Ansprüche.

 

Die Reduzierung der Sozialversicherungsanstalten von 21 auf 5 hatte auch den Zweck, die Arbeitgeberrechte zu stärken. Obwohl die Unternehmer nur 29 % der Einnahmen beitragen, erlangen sie durch die Reform 50 % der Entscheidungsmacht, im Dachverband sogar 60 %. Aufgrund zahlreicher Kürzungen drohen in den nächsten Jahren Selbstbehalte für die Patienten.

 

Eines der Flaggschiffe der türkis-blauen Regierung ist der Familienbonus von 1500 Euro pro Kind. Dieser begünstigt allerdings nur die Reichen und die Mittelschicht. Zahlt jemand aufgrund seines geringen Einkommens keine Lohnsteuer (und wir haben in Österreich mehr als 1/3 prekär Beschäftigte), dann erhält dieser als Alleinerziehender ein Almosen von 250 Euro pro Jahr. Die 324.000 armutsgefährdeten Kinder in Österreich haben von dieser 1,5 Milliarden-Investition rein gar nichts.

 

Die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder wurde durch Türkis-Blau indexiert. Hauptbetroffen davon sind ost- und südeuropäische Pflegerinnen, die sich 24 Stunden lang zum Hungerlohn von rund 1000 Euro um pflegebedürftige Senioren kümmern. Diese Regelung dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen Europarechtswidrigkeit vom EuGH aufgehoben werden.

 

Die Mindestsicherung, der Rettungsanker für die Ärmsten der Armen, macht gerade einmal 0,9 % der Sozialausgaben aus. Zu viel für ÖVP und FPÖ: Familien erhalten aufgrund der Auswirkungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes rund 40 Millionen Euro weniger, das 2. Kind erhält nur mehr 130 Euro monatlich, das 3. und jedes weitere nur mehr 43 Euro. Asylberechtigte, die erst die (schwierige) deutsche Sprache erlernen müssen, müssen mit 563 Euro monatlich auskommen. Und das im viertreichsten EU-Staat Österreich.

 

Alt-Kanzler Kurz, ein Studienabbrecher und Polit-Funktionär ohne Lehr- und Berufsausbildung, lamentiert in seinen unerträglichen Dauer-Floskeln stets von der "Zuwanderung ins Sozialsystem", die durch keinerlei Fakten untermauert wird. "Wer davor warnt, dass in unser Sozialsystem eingewandert wird, der ist es selber, der das Sozialsystem schwächt", so treffend Ökonom Stephan Schulmeister.  

 

Nahezu jedes politische Thema wurde während dieser 525 Tage dauernden Skandal-Regierung mit fremden- und migrantenfeindlichen PR-Slogans "gewürzt". Von Kurz stammt sogar das unfassbare Zitat aus dem September 2018: "Das, was ich heute sage, ist vor 3 Jahren in der EU von vielen als rechts oder rechtsradikal bezeichnet worden." So kritisierte er u.a. die flüchtlingsrettenden Hilfsorganisationen im Mittelmeer ("NGO"-Wahnsinn) und stellte sich auch im Fall Carola Rackete hinter den weit rechts stehenden italienischen Ex-Innenminister Salvini.

 

Sein FPÖ-Innenminister Kickl stellte die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage, ließ an den Erstaufnahmezentren das Schild "Ausreisezentrum" montieren,  sprach von der konzentrierten Unterbringung von Migranten und wollte eine Sicherungshaft für potentiell gefährliche Asylwerber ohne Gerichtsbeschluss einführen. Tatsächlich rechtlich umgesetzt wurde eine umstrittene Bundesagentur für Asylrechtsberatung, die dem Innenministerium unterstellt ist und anstelle von NGO´s die Asylwerber "unabhängig" beraten solle.

 

Durch ein von ÖVP und FPÖ beschlossenes "Sicherheitspaket" droht ein exzessiver Überwachungsstaat, dessen Einzelmaßnahmen derzeit vor dem VfGH geprüft werden, darunter ein Bundes-Trojaner, eine Vorratsspeicherung light und eine weitumspannende Überwachung des öffentlichen Raums durch Kameras.

 

Im Bildungsressort wurde kein Thema populärer verkauft als das Kopftuchverbot in Volksschulen, Migranten steckte man in abgesonderte Deutsch-Förderklassen, vor jenen jeder Experte (sogar der eigene Bildungsminister Fassmann) abriet. Die Mittel für Ganztagsschulen wurden um die Hälfte gekürzt, das 80 Millionen-Euro-Integrationsbudget gestrichen, dazu weniger Geld für Sprachlehrer und Sozialarbeiter. Das Sitzenbleiben und die Ziffernnoten wurden in der 2. Schulklasse wieder eingeführt. Bei Schulschwänzen droht armutsgefährdeten Eltern sogar eine Freiheitsstrafe.

 

 

An den Universitäten stehen durch Türkis-Blau - wie einst im Jahr 2000 - Studiengebühren ante portas. Berufstätige Studenten, die zumeist aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit über der Toleranzzeit liegen, fallen bereits jetzt nicht mehr unter die Gebührenbefreiung. 

 

Gesellschaftspolitisch befand sich die Regierung auf einem Weg zurück in die 50er: Heimattümelei, Brauchtum, Trachtenzauber, der Grundwehrdienst als "Schule der Nation", ein Nein zur Gesamtschule und die Ablehnung einer modernen Gesellschaft. So wollten die Rechtsparteien ÖVP und FPÖ sogar nach (!) dem VfGH-Urteil die seit Jänner 2019 geltende "Ehe für alle" wieder beseitigen. Nur eine fehlende 2/3-Mehrheit im Nationalrat hinderte sie daran.

 

Im Umweltbereich wurden die Rechte von NGO´s bei Umweltverträglichkeitsprüfungen eingeschränkt. Ein Standortentwicklungsgesetz hat das primäre Ziel, Großprojekte zu beschleunigen und Umweltinteressen hintanzuhalten.

 

Unterstützt wurde die rechtskonservative Regierung von Boulevard- und Qualitätszeitungen, die mit Inseraten in Millionenhöhe gefüttert werden bzw. im Eigentum ÖVP-naher Einflussträger stehen. Allein 2018 gab die Regierung 44 Millionen Euro für PR aus, die Kommunikationsabteilung des Alt-Kanzlers Kurz bestand aus 90 (!) Mitarbeitern. Medien, die nicht den "Hofberichterstatter" spielen (wie der "Standard" oder der "Falter"), werden von Informationen ferngehalten oder sogar geklagt. Orban lässt grüßen.

 

Steuerrechtlich präsentiert sich die Kurz-Strache-Regierung als "Beschützer der Reichen und Großkonzerne". Die Körperschaftssteuer für Unternehmen sollte von 25 auf 21 Prozent gesenkt werden. Für Immobilienspekulanten wurde eine gefinkelte Grunderwerbssteuer-Befreiung eingeführt, Mietzinsobergrenzen dagegen wurden strikt verweigert. Ebenso wie Vermögens- und Erbschaftssteuern für Millionäre. So besitzt 1 % der österreichischen Bevölkerung ca. 40 % des Vermögens, die reiche Klientel bedankt sich für die Steuerbefreiungen mit Großspenden an die ÖVP, die im Jahr 2017 die Wahlkampfkostenobergrenze um 6 Millionen Euro überschritten hat.

 

Summa Summarum profitierten von der Regierung Türkis-Blau zumeist nur die Reichen und die Großkonzerne. Die "einfachen Leute" wurden mit aalglatten PR-Slogans und mit verschärfenden Maßnahmen gegen Migranten, Arbeitslose und (vermeintliche) Sozialschmarotzer ruhiggestellt. So frei nach dem Motto: "Euch geht´s mit uns nicht besser, aber denen geht es noch schlechter."  Die katastrophalen Folgen für unsere einst solidarische Gesellschaft: Hetze, Neid, Hass im Netz und Spaltung sogar in den individuellen Familien.

 

Die 6,4 Millionen Wahlberechtigten (1,1 Millionen Bürger bzw. mehr als 30 % der Wiener dürfen aufgrund des Wahlrechts nicht wählen) haben nun am Sonntag die Möglichkeit, Bilanz über diese von der KurzVP geführten Regierung zu ziehen. Erreichen ÖVP und FPÖ wieder mehr als 50 % der Wählerstimmen, dann muss man ein  legendäres Karl Kraus-Zitat heranziehen: "Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird". Leider ist dies zu befürchten...