U2 in Berlin: Tourabschluss im Geburtsort von "Achtung Baby"!

"People just came back, crazy U2-Fans!" - Das teilte Bono Vox live seiner Frau Ali Hewson in einer Videobotschaft mit. Und tatsächlich: Nach dem am 1. September wegen Stimmausfalls abgebrochenen Konzerts in der Berliner Mercedes Benz Arena waren die ca. 14500 Plätze beim Wiederholungsgig am 13. November wieder prall gefüllt.

 

Kein Wunder: Nicht nur, dass die Tickets (logischerweise) ihre Gültigkeit behielten, handelte es sich beim 2. Berlin-Auftritt nun um das Finale der aus 59 Konzerten bestehenden "Experience & Innocence"-Tour. Auch eine DVD-Veröffentlichung des legendären Konzerts hinter der East Side Gallery ist geplant.

 

Die diesjährige U2-Tournee begann am 2. Mai 2018 in Tusla (Oklahoma). Der erste Auftrittsort dürfte nicht ohne Absicht gewählt worden sein. In Oklahoma erreichte Donald Trump 65,3 % der Stimmen, und die erklärten Trump-Gegner U2 waren neugierig auf die Reaktionen bezüglich ihrer in der Show verankerten progressiven politischen Parolen. 27 Shows fanden in Nordamerika statt, 33 in Europa, die letzten vier vor Berlin alle in der irischen Hauptstadt Dublin, in der das Rock-Pop-Phänomen U2 seinen Ursprung gefunden hat.

 

Die Stimmung in Berlin war bereits Stunden vor dem Gig euphorisch, gespannt, nervös. Als die ersten Töne von Noel Gallaghers wunderschöner Hymne "It´s a beautiful World" (die hinsichtlich Aufbau, Klang und Botschaft auch von U2 stammen könnte) erklangen, wussten alle, dass das Erscheinen von Bono, The Edge, Adam Clayton und Larry Mullen auf dem Bühnen-Areal immer näher rückt. Vorher zeigte der über der Bühne hängende 29 Meter lange und 7 Meter hohe doppelseitige LED-Screen, liebevoll "barricage" genannt", noch Bilder von im Weltkrieg zerbombten Städten bzw. autoritär bzw. rassistisch agierende Politiker a la Putin und Trump. Dazu eingefügt: Clips von Charlie Chaplin aus dem Film "Great Dictator", der Frieden und Toleranz propagiert.

 

Unter tosendem Applaus erklingen dann die ersten Töne von "The Blackout". Im "Barricage" erkennt man die Silhouetten der irischen Musiker, die im Laufe ihrer fast 40jährigen Karriere über 170 Millionen Tonträger verkauft haben. Und tatsächlich performen U2 diesen Song auch innerhalb des riesigen Video-Screens, der durch einen inneren Gang begehbar ist. Es folgt der erste gefühlvolle Auftritt von Bono, "Lights of Home" aus dem aktuellen Album, langsam sich bewegend auf dem geneigten Walkway. Bis die vier Ex-New Waver sich fast 40 Jahre zurückbeamen: "I will follow", ein rockiger Live-Favourite aus dem 80er-Album "Boy", und "Gloria" werden auf der Main Stage inmitten kreischender Fans performt. Dann "Beautiful Day", der groovige Pop-Smash und Nr. 1-Hit (der auch von Kult-DJ Oakenfold geremixt wurde) aus dem Jahre 2000. Am 1. September war danach (unverschuldet) Schluss. Dieses Mal hielt die Stimme von Bono Vox, und zwar besser denn je...

"Are we ready for the ride of our Life, asked Bono, as Zoo Station opened up in Berlin tonight. We were ready." U2 kehrten am Ende ihrer "Experience & Innocence" dort zurück, wo die Zukunft der Band einst auf dem Spiel stand. Es war Anfang der 90er, und die vier Bandmitglieder hatten unterschiedliche Ansichten bezüglich der zukünftigen musikalischen Ausrichtung. Bono & The Edge waren inspiriert von der Rave-Szene Manchesters, den Einstürzenden Neubauten und den Nine Inch Nails, Clayton und Mullen wollten den erfolgreichen Stil der letzten Alben fortsetzen.

 

"1990 was quite a moment to be in Berlin. The Wall had come down ..... everywhere but in Hansa Studios, recording Achtung Baby, and it wasn´t going very well. In fact the Walls were going up in the U2 Band." In den legendären Hansa-Studios wenige hundert Meter südlich der (heute fiktiven) Berliner Mauer, in denen David Bowie "Heroes" oder Depeche Mode "People are People" produzierten, setzten sich die progressiven Geister durch. Unter der Regie von Brian Eno, der auch beim Konzert in Berlin von den 4 Dublinern begrüßt wurde. Als erste Single von "Achtung Baby" erschien "The Fly", "the Sound of four men chopping down The Joshua Tree". U2-Puristen schüttelten anfangs den Kopf, dann faszinierte der von Dance, Indie, Industrial und Trip Hop geprägte Sound die gesamte Fan-Community. 

 

Das Berliner Abschluss-Konzert war in diesem Sinne auch ein Tribute an die verrückt-kreative Berlin-Zeit von U2 ("We came here not to find ourselves but to get lost...sometimes young men just need to get lost").  Der "Achtung Baby-Zooropa"-Mittelteil (der bei der Nordamerika-Tournee nicht auf der Setlist stand), beginnt bereits mit dem selten gespielten "Dirty Day", dann dröhnt "Zoo Station" aus den Boxen, während Bono Vox unter einem riesigen Schild "U Bahnhof Zoologischer Garten" den Barricage-Walkway betritt. Dann einer der großen Highlights des Konzerts: "The Fly" mit Bono und The Edge auf dem Walkway, auf dem Video Screen darüber Zahlen, Buchstaben, Codes, Worte im Überschalltempo. Es folgt die Ballade "Stay" - im dazugehörigen Video hüpfte Bono Vox einst von der gigantischen Siegessäule im Berliner Tiergarten - und "Who´s gonna ride your Wild Horses". Nach den temporeichen 2000er-Hits "Elevation" und "Vertigo" steht dann "Even better than the Real Thing"(durch den Oakenfold-Remix damals auch in den Rave-Clubs en vogue)  auf der kleinen mit LED-Displays aufgerüsteten B-Stage inmitten der jubelnden Fans auf dem Programm. 

 

Auch ein alter Bekannter aus der Zoo-TV-Tour der 90er (die als Open-Air-Version gemeinsam mit Guns N Roses sogar auf der Wiener Donauinsel am 24. Mai 1992 Station machte) feierte ein Comeback in Berlin: MacPhisto. Durch einen Augmented Reality-Kamera-Filter wurde eine Teufelsfratze in das Gesicht von Bono projiziert. Die verzerrten Wortkreationen differierten je nach Auftrittslocation. In Berlin erklärte sich MacPhisto zum einzigen Gesicht hinter diversen Rechtspopulisten und Despoten wie Trump, Le Pen, Assad oder Putin: "There´s only one face attached to them. It´s mine." Wäre schön, wenn man alle mit denselben Waffen schlagen kann...

"We are sick of living in the shadows. We´ve one more chance before the light goes - for a summer of love." Diesen wunderschönen Track aus dem neuen 14. Studioalbum "Songs of Experience" performen Bono Vox und The Edge gemeinsam auf der vulkanmassenähnlich designten B-Stage. Dass die irische Band mit "Summer of Love" keineswegs einen hippieberauschten Sommer voller Love, Peace & Happiness meint, das merken die Konzertbesucher spätestens dann, wenn der Video Screen die zerbombten Häuser Syriens, die Flüchtlingsboote auf hoher See und die auf Autostraßen wandernden Refugees weit abseits ihrer Heimat zeigt. Dann ein radikaler Stilbruch: Neonazis, Faschisten und Nationalisten voller Hass, pöbelnd, randalierend gegen Ausländer, Migranten, Polizei, Linksaktivisten und das gesellschaftliche Establishment. Im Hintergrund tönt bereits die einst Martin Luther King gewidmete Friedenshymne "Pride - In the Name of Love".  On the Screen "Refugees Welcome"-Banner, Anti-Faschismus-Demonstrationen, Peace-Symbole. Es besteht noch Hoffnung im Kampf gegen den Rechtsradikalismus und -populismus weltweit. 

 

In dieselbe Richtung zielt auch die nächste Message von U2: "Europa ist die große Idee des 21. Jahrhunderts. Seine Werte und Ansprüche machen Europa zu so viel mehr als einer geographischen Verortung. Diversität ist keine Gefahr (wie es die Nationalisten behaupten), sondern die Grundlage der Menschheit." Zum Zeichen ihrer Verbundenheit zur Europäischen Union und dem durch die EU gewährleisteten Frieden und Wohlstand hissen U2 eine riesige virtuelle EU-Fahne über der Main Stage, während sie ihren von Lech Walesa inspirierten 83er-Hit "New Year´s Day" unter tosendem Applaus der Fans performen. 

 

Vor dem Zugabenteil macht der gesellschaftspolitisch engagierte U2-Frontman noch Promotion für die neue "One"-Kampagne "Poverty is Sexist". Die zentralen Botschaften: 130 Millionen Frauen erhalten keine adäquate Schulbildung, 20.000 Frauen werden weltweit pro Jahr mit dem HI-Virus infiziert, die Armut trifft Frauen ungleich härter als Männer. "Women of the World", die gefühlvolle Kampagnen-Ballade von Jim o´Rourke, erklingt - wie bei allen Tour-Auftritten - in der Berliner Arena, auf dem LED-Screen erblickt man Sian Evans, die Tochter von The Edge, und das kongeniale Zitat "None of us are equal until all of us are equal."

 

Beim darauffolgenden "Achtung Baby"-Hit "One" kann Bono Vox seine Stimme schonen. Inmitten eines Smartphone-Lichtermeeres singen die U2-Fans enthusiastisch die Strophen der Liebesballade. "Love is bigger than anything in its way" stellt die logische Fortsetzung dar, geschmückt mit bunten Videos über glücklich verliebte Menschen jenseits aller Geschlechtergrenzen.

 

Jetzt zeigt sich bereits Nervosität auf den Rängen. Der letzte Song (laut den bisherigen Setlists) "droht": "There´s a light", auch der letzte Track des letzten Albums "Songs of Experience". Eine leuchtende Glühbirne (die bereits zu Beginn der "Innocence"-Tour zu sehen war) erhebt sich aus einem Kästchen, Bono nimmt sie in die Hand und schwingt sie in Richtung Publikum. Der Text des melancholischen Lieds handelt nicht nur von der Vergänglichkeit des Lebens ("If there is a world, we can´t always be"), sondern ist ein Aufruf an die nächste Generation, in unsicheren Zeiten Stärke zu zeigen  "And there´s a light - Don´t let it go out".  Der Song ist zu Ende, Bono verlässt inmitten der Fans die Arena durch einen Seitenausgang.

 

Eine Überraschungs-Zugabe - viele hatten auf "With or Without you" (aus dem bei der Tour nicht berücksichtigten "Joshua Tree"-Album)  gehofft - wird nicht gewährt. Nur die ambivalente Botschaft: "We´ve been on the Road for quite some time, just going on 40 Years. And this last 4 years have been really something very special for us. We´re going away now"....

 

 

Die Fakten zur abgeschlossenen "Experience & Innocence"-Tour 2018: 59 Konzerte, 923.733 verkaufte Tickets, Einnahmen von insgesamt 126,2 Millionen US-Dollar. Die höchsten Gesamteinnahmen pro Stadt erzielten U2 in Paris (9,4 Millionen bei 4 Shows) und in New York (8,7 Millionen bei drei Shows). Wien war angeblich aufgrund der mangelnden räumlichen und technischen Kapazität der Wiener Stadthalle nicht im Tour-Programm.